Heidi Gidion: „Vorbild und Verräter in einer Person“ – Péter Esterházy über seinen Vater

Der Vortrag behandelt ein Phänomen der ungarischen Literatur: das umfangreiche opus magnum von Péter Esterházy aus dem Jahre 2000/01 “Harmonia Caelestis”, in alle europäischen Sprachen übersetzt, sowie das zwei Jahre darauf erschienene schmalere Buch mit dem rätselhaften Titel “Verbesserte Ausgabe”. Für das erstere Buch erhielt der Autor 2004 zahlreiche Preise, u.a. den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.

Während “Harmonia Caelestis” im Ersten Teil in der postmodern stilisierten Schreibweise des Autors die Geschichte des alten ungarischen Adelsgeschlechts der Esterházy in seinem Reichtum und seiner Macht darstellt, und zwar pointiert auf Erscheinungsweisen des jeweiligen Vaters, widmet sich der Zweite Teil dem biographisch fassbaren Großvater und Vater in der Zeit nach der Machtübernahme der Kommunisten, d.h. nach Aussiedlung und Verlust von Macht und Reichtum. Der Sohn-Erzähler zeichnet in seinem Vater das Bild eines integren, durch Verarmung und Demütigungen nicht zu brechenden Mannes – eine Instanz, eine Autorität.

Das Nachfolge-Buch, nicht mehr in der Mischung aus Historie und Fiktion verfasst, sondern als den historischen Tatsachen verpflichtetes Dokument, ist eine Chronik im strengen Sinne. Es zeichnet Schock und Trauerarbeit auf als die Folgen einer umstürzenden Entdeckung: Der geliebte Vater, das unangreifbare moralische Vorbild, hat bis zu seinem Tode als geheimer Agent für die ungarische Stasi gearbeitet. Niemand in der Familie hat es auch nur ahnen können. Schock, Trauerarbeit und das Bemühen um Verstehen des Sohnes sind das Zentrum der “Verbesserten Ausgabe”..

Dr. phil. Heidi Gidion

geboren in Berlin. Studium von deutscher und englischer Literatur sowie Philosophie.

Promotion zum Dr. phil. in Göttingen mit einer Strukturuntersuchung von Goethes letztem Roman “Wilhelm Meisters Wanderjahre“ (Göttingen, V&R 1959).

1960-1989 Verantwortliche Redakteurin der Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft “Neue Sammlung“ sowie Dozentin am Kalifornischen Studienseminar an der Universität Göttingen. Regelmäßige Arbeit in Fernsehen (Drehbücher) und Rundfunk WDR Köln, SWF Stuttgart (Dialoge, Essays) über Literatur-Themen.

Literaturvorträge und -seminare an der Evangelischen Akademie Hofgeismar, den Lindauer Internationalen Psychotherapiewochen u.a. Zusammen mit Prof. Léon Wurmser in Göttingen die Seminar-Reihe “Psychoanalyse und Literatur“.  

Arbeitsschwerpunkte
Literaturrezeption als Weise der Selbsterfahrung;  
Literarische Aspekte psychoanalytisch relevanter Themen;
DDR-Literatur;  
der große europäische Roman (Proust, Cervantes, Tolstoj, Dostojewski);  
die Briefwechsel von Lou Andreas-Salomé: mit Rilke, Freud und Anna Freud.

Publikationen in Auswahl
Studien über die Beziehungen von Töchtern – Müttern sowie von Töchtern – Vätern als literarischen Motiven (Herder Spektrum 1993ff.; Fischer Tb 1999).
Zusammen mit Léon Wurmser “Die eigenen verborgensten Dunkelgänge. Narrative, psychische und historische Wahrheit in der Weltliteratur“, Göttingen 1999.
“Bin ich das? Oder das? Literarische Gestaltungen der Identitätsproblematik“, Göttingen 2004.
“Phantastische Nächte. Traumerfahrungen in Poesie und Prosa“. Göttingen 2006.