Marion Oliner: Der Richter und das ewige Kind

Bei dem Thema, das Léon Wurmser schon jahrelang beschäftigt, bleibt für mich eine nicht befriedigend gelöste Frage: Kann man dieselbe Ausdrucksweise, sowohl für einem „inneren Tyrannen“, als auch für die moralischen Instanz, das Gewissen des Individuums gebrauchen?

In meinem Vortrag will ich der Frage nachgehen, wie viel an Unheil entsteht durch die ewigen Kinder in Menschen, die Unterwerfung mit Tugend verwechseln. In der Praxis finden wir sie zum Beispiel unter den ‘guten’ Patienten, die immer wieder auf Belohnung oder Anerkennung warten, und den Analytiker oft jahrelang als Richter empfinden. Es braucht viel an Geduld und Durcharbeiten bis sie ihn aus dieser Rolle entlassen. Obwohl solche Patienten oft von Schuld sprechen, scheint diese doch mehr von dem »inneren Tyrannen« abzustammen, als von echter Moralität.

Ich werde mich auch damit beschäftigen, dass zum Beispiel die Grausamkeit, die im Namen von Religionen verübt wurden, ein Zeichen dafür zu sein scheint, dass es sich immer wieder um Menschen handelt, die sich fraglos einem Richter, einem Führer, oder einem Befehl unterwerfen, um sich zu entlasten und dadurch schuldlos das zu tun, was sie sich sonst nicht trauen würden. Da , wo noch Reste eines Gewissenskonfliktes existieren, wie etwa bei denjenigen, die nicht völlig bereit waren Menschen in der NS-Zeit in die Gasöfen zu befördern, gab man Alkohol, um ihr Gewissen zu beschwichtigen und löste so ihren Widerstand auf.

Warum ich die Bereitschaft zur Grausamkeit keinesfalls als biologisch gegeben verstehe, werde ich begründen und darlegen, wie ich in ihr eher einen bewussten Beweggrund sehe.

Marion Oliner

Marion Oliner-Michel, Dr. phil., geb.1929 in Andernach am Rhein, lebt heute in New York

1939 Flucht mit den Eltern nach Belgien, dort Verhaftung des Vaters; 1942 Flucht mit der Mutter nach Frankreich; Eltern werden nach Ausschwitz deportiert und kommen dort um; Aufnahme in der Schweiz bei einer Jüdischen Organisation, die Kinder betreute; 1946 Auswanderung nach Amerika

BA “Bryn Mawr College” 1952

MA und Ph.D. “Teachers College Columbia University“ 1958

Psychoanalytische Ausbildung bei der „New York Freudian Society“. 1970

Psychoanalytikerin in eigener Praxis in New York, Mitglied der New York Freudian Society (IPA, NPAP), Ausbildungs-und Lehranalytikerin (NYFS,NPAP).

Auswahl von Veröffentlichungen

  • The Anal Phase. 1982, in Early Female Development. Dale Mendell (Hrsg). New York, Spectrum Press, 25–60.
  • Cultivating Freud’s Garden in France, 1988. Jason Aronson.
  • Hysterische Persönlichkeitsmerkmale bei Kindern Überlebender in Kinder der Opfer, Kinder der Täter. 1995. S. Fischer Verlag, pp. 292–321.
  • Äußere Realität, 1997. Jahrbuch der Pychoanalyse 37: 9–43.
  • Das ungelöste Rätsel “Trauma”: Auswirkungen des Holocaust auf die Sexualität. 1999, Psyche. 53, 1115–1136.
  • Über die Schwierigkeiten, seine Feinde zu hassen. In: Die Gegenwart der Psychoanalyse - die Psychoanalyse der Gegenwart, Bohleber, W. and Drews, S. (Hrsg.) 2001 Klett-Cotta, Stuttgart, 208–222.
  • Die innere Welt der “schlechten” Mutter. 2002, Psyche 56, 442–458
  • Die externalisierende Funktion von Gedenkstätten. in Repräsentationen des Holocaust im Gedächtnis der Generationen. M. Frölich; Y. Lapid; C. Schneider (Hrsg.) 2004, Brandes & Apsel, Frankfurt/M.
  • Auf der Jagd nach Nazis 2005. In: Trauma der Psychoanalyse? Die Vertreibung der Psychoanalyse aus Wien 1938 und die Folgen. Milletre Verlag, 155–172.
  • Die Psychoanalyse: Ein Zimmer ohne Aussicht? 2008 Psyche, 62, 1122–1147
  • Persönliche Betrachtungen über den Objektverlust. Jahrbuch der Psychoanalyse 2009, 213–223.
  • Die zufällige Analytikerin in Psychoanalyse in Selbstdarstellungen Vol. VIII Ludger M. Hermanns (Hrsg) 2010, Brandes & Apsel, Frankfurt/M, 187–243
  • Drehen Sie sich nicht um, Frau Lot. 2011. In: Diederichs, P., Frommer, J ., Wellendorf, F. (Hrsg.): Äußere und innere Realität. Klett-Cotta, Stuttgart, 261–275