VERANSTALTUNGEN

Bildung und Psyche

Die am antiken Ideal und am humanistischen Konzept orientierte »Bildung« galt in erster Linie als Programm der Selbstbildung des Menschen, eine Formung und Entfaltung von Körper, Geist und Seele, von Talenten und Begabungen, die den Einzelnen zu einer entwickelten Individualität und zu einem kritischen und selbstbewussten Teilnehmer am Gemeinwesen und seiner Kultur führen sollten. Gleichzeitig galt Bildung als einzige Möglichkeit, den Menschen aus der Barbarei in die Zivilisation, aus der Unmündigkeit in die Autonomie zu leiten.

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Maßstab und Ausdruck dafür war die Auseinandersetzung mit beispielhaften, gemeint war dabei eigentlich beispielgebenden Inhalten, wie den alten Sprachen, der hohen Literatur, der Kenntnis der philosophischen, ästhetischen, kulturellen und religiösen Überlieferungen. Von was muß der Analytiker Psychotherapeut wissen?

Für Wilhelm von Humboldt war Bildung die »letzte Aufgabe unseres Daseyns« schlechthin und er beschrieb sie in seiner Theorie der Bildung des Menschen mit einem denkwürdigen Begriff, nämlich dem Erwerb der »Menschheit in unserer Person, sowohl während der Zeit unseres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus«. Das ist zunächst etwas befremdlich. Aber unter dieser Perspektive umschreibt Bildung schlechthin das Programm der “Mensch Werdung“ durch geistige Arbeit. Es bedeutet die Aneignung von Wissen über sich und die Welt, wie auch die sinnvolle Auseinandersetzung mit diesem Wissen und seinen Zusammenhängen.

Die Idee der Wissenschaft als einer geistigen Durchdringung um des Erkennens willen, ohne Nützlichkeitsaspekt, ist von dieser Bildungsidee nicht zu trennen. In diesem Sinne ist Sonderung und Auslagerung von Wissen völlig gegensätzlich zur Aneignung. Es kann immer nur ein bestimmtes, individuelles Wissen angeeignet werden und nur in dem persönlich angeeigneten und verarbeiteten Wissen realisiert sich der Bildungsprozess. Wer nur weiß, wo und wie er »nachschauen« muss, um etwas zu wissen, weiß nach Humboldt in Wirklichkeit nichts. Das widerspricht fast allem, was wir heute hören und lesen können und zu wissen glauben.

Es gibt dann übrigens auch kein Wissen, das angesichts der Idee der Erkenntnis mehr wert wäre als ein anderes. Und es gibt kein Wissen, das sich überholt und das man wegwerfen kann wie ein gebrauchtes Taschentuch, wohl aber gibt es ein unsinniges, weil isoliertes Wissen, das keinen Bezug mehr zum Humboldtschen »Begriff der Menschheit« aufweist.

Gegenwärtig orientiert sich Bildung aber – ganz anders – zunehmend nicht mehr an den Möglichkeiten und Grenzen des Individuums, auch nicht an einer kulturellen Tradition, sondern an externen Faktoren wie Markt, Arbeitsplatz, Standortqualität und technologischer Entwicklung, die nun jene Standards vorgeben, die erreicht werden sollen. Es geht um handfeste politische und ökonomische Interessen. Schon die Zentralbegriffe der Bildungsdiskussion zeigen das: Ökonomisierung, Modularisierung, Standardisierung, Zertifizierung, Akkreditierung. Das sind Begriffe von Industrialisierungsprozessen. Wissen wird industrialisiert, rasch hergestellt, günstig hergestellt und schnell wieder vergessen - vergessen werden Tatsachen und Sachverhalte, Wissen geht verloren -, um dann neuem Wissen Platz zu machen.

Wir stellen fest, dass im Allgemeinen Einigkeit darüber herrscht, das Wissen die wichtigste Ressource der Zukunft ist, dass der rasche Zugriff auf, und der schnelle Transfer von Wissen über Marktchancen entscheidet, dass das Konzept von Wissensmanagement alte Vorstellungen von Bildung und Lernen ersetzen müsse. Jedermann ist angehalten, sich pausenlos und lebenslang mit einer Fülle von frei zur Verfügung stehenden Informationen zu versorgen. Spätestens seit der digitalen Medienrevolution gilt die weltweite Verfügbarkeit allen Wissens, die vollkommene Transparenz der Wirklichkeitsaspekte und Zugänglichkeit des Wissens nicht mehr als Ideal, sondern als Realität. So wurde der Begriff des Wissens selbst verändert. Wenn etwas auf der Tagesordnung steht, dann nicht mehr die Frage, ob irgend ein Wissen jemandem vorenthalten wird, sondern höchstens, wie durch den überbordenden Dschungel der Informationen Schneisen zu schlagen wären und wie die Datenfluten organisiert und selektiert werden können. Die Informationsgesellschaft behandelt das Wissen so wie einst die industrielle Gesellschaft das Öl: Unermüdlich sprudeln die Quellen und es geht nur noch darum, schneller als andere an den begehrten Rohstoff zu kommen und ihn möglichst effizient einzusetzen und zu verwerten.

Immer mehr Wissen wird in immer kürzester Zeit erzeugt und muss dementsprechend rasch aufgenommen und verarbeitet werden. Von einem knappen und sorgsam gehüteten Gut ist Wissen zu einem Überflussprodukt geworden. Unter dieser Perspektive erscheint die »Allgemeinbildung« genauso als Luxus wie die »Persönlichkeitsbildung«. In einer sich rasch wandelnden Welt, in der sich Qualifikationen, Kompetenzen und Wissensinhalte ständig ändern, scheint Humboldts Sorge vor „Bildungslosigkeit“, dem Verzicht auf verbindliche geistige Traditionen und klassische Bildungsgüter, fast zu einer Tugend geworden zu sein, die es dem Einzelnen ermöglicht, rasch, flexibel und unbelastet von »Bildungsballast« auf die sich stets ändernden Anforderungen der Märkte zu reagieren. Solches Lernen aber noch „Bildung“ zu nennen, stellt historisch gesehen eine grobe Verzerrung dar. Was hier gemeint ist, ist Ausbildung.

Bildung ist etwas, was der Mensch mit sich und für sich macht. Man bildet sich. Ausbildung machen andere, man wird ausgebildet, aber man bildet sich selbst. Ausbildung wird durchlaufen mit dem Ziel, etwas zu können und dieses Können kann man überprüfen. Wenn wir uns bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden, ein autonomer Mensch in der Welt. Es gibt deshalb auch keinen Konkurrenzkampf zwischen Ausbildung und Bildung.

Zur Bildung gehören auch Kompetenzen, aber nicht, um mit diesem Wissen bestimmte Probleme zu lösen, sondern um ein Bild von der Welt zu gewinnen und sich in der Welt zu positionieren. Wissen als Bildung ist nicht zweckorientiert. Ich kann vieles wissen, was zunächst oder sogar auf Dauer keinen oder wenig Einfluss auf mein Leben hat, das heißt, ich kann viele Daten speichern und nach Sinnkriterien miteinander, lesbarer verknüpfen. Ob dieses Wissen für mich nützlich oder unnütz ist, entscheidet sich aber nie im Moment der Herstellung oder Aufnahme dieses Wissens. Ich kann, anders gesagt, nie wissen, welches Wissen mir einmal helfen wird, neue Informationen zu prüfen oder sinnvoll auf diese zu reagieren.

Bildung meinte immer anderes und mehr als Qualifikation. Bildung ist die Loslösung von informellen Abhängigkeiten und die Eigenständigkeit der Weltsicht, also Selbstorientierung und Souveränität.

Die Fähigkeit der Angemessenheit im Handeln, ein historisches Bewusstsein, die Artikulationsfähigkeit für differenzierte eigene Gedanken, Selbstverantwortlichkeit und eine moralische und ästhetische Sensibilisierung. Natürlich gehören zu jeder »Schule« Fächer, Lehrpläne, Prüfungen und Zeugnisse. Aber das kann nicht alles sein. Friedrich Nietzsche schreibt: Schulen müssen mehr als Fächer und Curricula bieten. Sie müssen Raum sein für Neugier, Lust und Muße. Bildung kann nur dort entstehen, wo Inseln, Oasen und Freiräume geschaffen sind. Schulen müssen den Luxus bieten, sich eine Zeitlang mit Dingen beschäftigen zu können, die nicht notwendig sind.

Diesem Bildungsbegriff fühlen wir uns in der psychotherapeutischen Ausbildung verpflichtet.

Die Institutsleitung